Definition und Formen der Kindeswohlgefährdung

Auslöser der Wahrnehmung des Schutzauftrages nach § 8a Abs. 2 SGB VIII sind „gewichtige Anhaltspunkte“ für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugend- lichen. Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind Hinweise oder Informationen über Handlungen gegen Kinder und Jugendliche oder Lebensumstän- de, die das leibliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährden, unabhängig davon, ob sie durch missbräuchliche Ausübung der elterli- chen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes oder Jugendlichen, durch unver- schuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten entstehen.

Es ist in die fachliche Verantwortung der Jugendhilfe gelegt, insbesondere unterhalb der Rechtsnorm des § 1666 BGB, konkrete Gefährdungskriterien zu benennen und Schwellenwerte zu definieren. Daher muss es konkrete Hinweise oder ernst zu neh- mende Vermutungen für eine Gefährdung geben. Diese müssen nicht nur entfernt auf eine solche hindeuten, sondern von gewissem Gewicht sein, damit die Voraus- setzungen des § 8a SGB VIII für „gewichtige Anhaltspunkte“ vorliegen.

Um eine Abgrenzung zwischen einer Kindeswohlgefährdung und einer dem Kindes- wohl nicht entsprechenden Erziehung vorzunehmen, sind drei Kriterien von Bedeu- tung. Um eine Kindeswohlgefährdung handelt es sich dann, wenn

  • problematische Aspekte oder Ereignisse von hoher Intensität die kindliche oder jugendliche Entwicklung beinträchtigen oder gefährden,
  • die schädigenden Bedingungen nicht nur einmalig oder selten auftreten, sondern ein Handlungsmuster besteht (natürlich kann es sich auch um einen besonders massiven einmaligen Akt handeln),
  • aufgrund dieser Bedingungen eine Schädigung des Kindes oder seiner Entwicklung absehbar oder bereits eingetreten ist.

Eine Kindesmisshandlung ist demnach eine nicht zufällige gewaltsame, psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch El- tern/ Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt oder in seiner Entwicklung wesentlich hemmt. Die Frage nach dem Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung verweist auch unmittelbar auf die Frage ihrer Er- scheinungsformen.

• Vernachlässigung (auch emotionale Vernachlässigung und Vernachlässigung der geistigen Entwicklung), • körperliche Kindesmisshandlung, • Miterleben von Partnerschaftsgewalt in der Familie, • seelische Kindesmisshandlung, • sexuelle Kindesmisshandlung, • Erwachsenenkonflikte ums Kind, • Autonomiekonflikte.

Kindeswohlgefährdungen entstehen selten „auf einen Schlag“ oder „über Nacht“. In der Mehrzahl der Fälle tritt eine Veränderung der Lebensumstände, eine Zunahme der Probleme, eine Abnahme der Bewältigungsstrategien, eine Überforderung ein. Häufig ist es eine schleichende Entwicklung, die es zu erkennen gilt.

Vernachlässigung ist die andauernde und wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), das zur Sicherstellung der physischen und psychischen Ver- sorgung des Kindes notwendig wäre. Dabei kann diese Unterlassung sowohl aktiv als auch passiv (unbewusst) aufgrund unzureichender Einsicht oder unzureichenden Wissens erfolgen.

Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebens- bedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und see- lische Entwicklung und kann zu gravierenden Schäden oder gar zum Tod des Kindes führen.

Am häufigsten betroffen von dieser Art der Kindeswohlgefährdung sind vor allem kleinere (und) oder behinderte Kinder, die (noch) nicht in der Lage sind, solche Man- gelsituationen aus eigenen Ressourcen heraus zu kompensieren oder die erfahrene Nichtberücksichtigung ihrer Bedürfnisse öffentlich auszudrücken. Sie sind einem be- sonders hohen Gefährdungsrisiko für Leben und Gesundheit ausgesetzt, da sie im besonderen Maße auf Fürsorge und Schutz angewiesen sind.

Die Vernachlässigung ist als eine besondere Form der Beziehungsstörung zwi- schen den sorgeverantwortlichen Personen und dem Kind zu sehen.

Bei der Vernachlässigung handelt es sich um eine Folge elterlicher Unterlassungen und Fehlhandlungen, z. B. Alleinlassen der Kinder über unangemessen lange Zeit und unzureichende Versorgung und Pflege der Kinder. Ebenfalls ist auch die wis- sentliche Verweigerung von Versorgungs- und Erziehungsleistungen, Verweigerung von Schutz und Krankheitsbehandlung und Vorenthalten von Nahrung als Strafmaß- nahme, wie auch die mangelnde Beaufsichtigung des regelmäßigen Schulbesuchs eine Form von Vernachlässigung.

Vernachlässigung von Kindern

Für die Handlungsstrategien der Jugendhilfe stellt es einen wesentlichen Unterschied dar, ob Vernachlässigung hauptsächlich ein Resultat von Überforderung und Nicht- wissen ist oder ob Eltern die Vernachlässigung erkennen und trotzdem keine Abhilfe schaffen bzw. Vernachlässigung sogar bewusst herbeiführen.

Im Folgenden sind Merkmale erläutert, die in Familien zu Vernachlässigung führen können.

• Kreislauf des Versagens: Die Eltern haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, immer versagt zu haben und ziehen daraus die entsprechende Annahme, auch zukünftig zu versagen. Daraus ergibt sich eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. „Apa- thie-Nutzlosigkeitssyndrom“. Wenig Frustrationstoleranz.

• Herkunftsgeschichte: Die Eltern sind selbst vernachlässigt worden. Ihre Bedürfnisse als Kinder da- mals wurden ebenfalls nicht wahrgenommen und nicht befriedigt. Vernachlässigung Unzureichende… Liebe und Akzeptanz Ernährung Anregung und Schutz Förderung Zuwendung Pflege Betreuung Gesundheitsvor- und -fürsorge

Stand: 11.04.2008 Seite 14 von 29

• Kind: Das Kind wird nicht als eigenständige Person mit eigenen Bedürfnissen er- kannt, sondern als eins mit der eigenen Person empfunden. Das Kind droht in dem Maße vernachlässigt zu werden, wie die Eltern selbst vernachlässigt wur- den, sich noch immer vernachlässigen, da sie es nicht anders kennen.

• Energielosigkeit: In „reinen“ Vernachlässigungsfamilien herrscht eine große Energielosigkeit, An- triebsarmut, Lethargie und Resignation. Die Situation wird in der Regel nicht eskalieren, d. h. nicht so ohne weiteres auffällig werden oder öffentlich in Er- scheinung treten. Die Personen werden nicht von sich aus um Hilfe bitten (per- manente Mangelsituation für das Kind/die Kinder).

• Handlungskonzept: Vernachlässigungsfamilien agieren impulsiv, nicht überlegt. Sie haben nicht die Möglichkeit, ihr Handeln reflektiert zu betrachten und auf positive Handlungs- muster zurück zu greifen. Da eigene Bedürfnisse als Kind nicht befriedigt wur- den, kann eigene Bedürfnisbefriedigung schwerlich aufgeschoben werden und geht meist der des Kindes vor.

• Konfliktlösungsverhalten: Zu dem in diesen Familien häufig zu beobachtenden Konfliktlösungsverhalten gehört das impulsive Ausagieren von Frustrationen und Spannungen. Das dient dazu, unbewältigte Konflikte und die damit verbundenen Emotionen wieder auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

• Machtstrukturen: Das elterliche Erziehungsverhalten ist nicht beständig. Die Eltern schwanken zwischen autoritärer Kontrolle und Hilflosigkeit. Oftmals verzichten die Eltern auch auf ihre Entscheidungsfunktion. Sie delegieren diese an ein Kind in Eltern- funktion oder sind physisch und/oder psychisch nicht präsent und bringen die Kinder dadurch in eine Überforderungs- oder Gefährdungssituation.

• Form der Kontakte: Kaum Kontakte zum Gemeinwesen. Soziale Kontakte sind weitestgehend auf Verwandtschaftsbeziehungen reduziert. Zur Herkunftsfamilie besteht vielfach eine unbewusste Loyalitätsbindung.

Unter körperlicher Misshandlung wird die physische Gewalteinwirkung seitens der Eltern oder anderer Erwachsener auf ein Kind verstanden (direkte Gewalteinwirkung auf das Kind). Dabei umfasst die körperliche Kindesmisshandlung alle gewaltsamen Handlungen aus Unkontrolliertheit (unkontrollierte Affekthandlungen) oder Erzie- hungskalkül (Erziehungsmaßnahmen, die dem Wohl des Kindes widersprechen), die dem Kind körperliche Schäden und Verletzungen zufügen (z. B. durch Schlagen,

Treten, Herunterstoßen, Schütteln, Beißen, Würgen, Verbrennen, Verätzen, Vergif- ten, Untertauchen in Wasser, Stichverletzungen zufügen oder der Kälte aussetzen, Verabreichung von medizinisch nicht indizierten Schlaf- oder Beruhigungsmitteln usw.).

Körperliche Misshandlungen hinterlassen häufig sichtbare Spuren auf der Haut. Be- sonders sind hier Verletzungen an untypischen Stellen (die sich ein Kind durch Sturz usw. nicht selbst zugezogen haben kann), z. B. Innenseite der Oberschenkel, Rü- cken, zu beachten.

Eine durch Misshandlung verursachte Schädigung des zentralen Nervensystems ist die häufigste misshandlungsbedingte Todesursache (insbesondere Schütteltrauma). Folgen sind häufig auch schwerste Hirnverletzungen mit lebenslanger Behinderung.

Eine seltene Form der körperlichen Misshandlung ist, wenn ein Elternteil dem Kind absichtlich einen körperlichen Schaden zufügt, um mit dem Kind Behandler aufsu- chen zu können und darüber Beachtung zu erhalten (Münchhausen-Stellvertreter- Syndrom).

Der Begriff Partnerschaftsgewalt umfasst die Formen der physischen, sexuellen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt, die zwischen erwachsenen Men- schen stattfindet, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden ha- ben. Dies sind in erster Linie Erwachsene in ehelichen und nicht ehelichen Lebens- gemeinschaften, aber auch in anderen verwandten Beziehungen (Definition, Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt).

Kinder erleben massiv und/oder wiederholt Gewalttätigkeiten des einen Elternteils gegen den anderen (häufig des „sozialen“ Vaters gegen die Mutter) oder beider El- ternteile gegeneinander.

Partnerschaftsgewalt wirkt sich schädigend auf die Entwicklung von Kindern aus. Sie beeinträchtigt z. B. als innerpsychischer Prozess das Gefühl emotionaler Geborgen- heit, das Gefühl der eigenen Sicherheit und der Sicherheit anderer Familienmitglie- der. Es entstehen anhaltende Gefühle der Bedrohung, Hilflosigkeit und Überforde- rung. Zudem wird Gewalt als Konfliktlösung vermittelt.

Bei einem hohen Anteil der betroffenen Kinder besteht zusätzlich die Gefahr, selbst körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein.

Der Glaube bzw. die Hoffnung von Eltern, das Kind trage keinen Schaden davon, weil es nicht im gleichen Raum war, ist irrational. Stellt Partnerschaftsgewalt zwischen den Eltern ein beständiges und Veränderungen kaum zugängliches Element im Lebensumfeld eines Kindes dar, so kann es notwen- dig werden, die Erforderlichkeit eines Eingriffs in die Rechte der Eltern zu überprüfen.

Erlebte Gewalt, auch wenn sie nicht auf die Person des Kindes gerichtet ist, ist seeli- sche Kindesmisshandlung.

Die seelische Misshandlung umfasst alle elterlichen Äußerungen und Handlungen, die das Kind terrorisieren und/oder herabsetzen und/oder überfordern und ihm das Gefühl der Ablehnung und eigenen Wertlosigkeit vermitteln.

Zum Gefährdungsbild der seelischen Misshandlung gehört aber auch als anderes Extrem die Überbehütung und symbiotische Fesselung der Kinder.

Sexuelle Kindesmisshandlung liegt vor bei sexuellen Handlungen durch Erwachsene oder wesentlich ältere Jugendliche, die diese an oder vor einem Kind oder durch ein Kind an dem Täter oder einem Dritten unter Ausnutzung eines Macht-, Abhängig- keits- und/oder Vertrauensverhältnisses durchführen. Zu diesen Handlungen zählen auch das Zeigen und das Erstellen pornographischer Materialien vor bzw. mit einem Kind. Diese Handlungen finden unter einem großen Geheimhaltungsdruck statt, der den Aufdeckungs- und Interventionsprozess erschwerend beeinflusst.

Bei Erwachsenenkonflikten um das Kind, z. B. zwischen zwei Elternteilen nach einer Trennung, zwischen Pflegeeltern und Eltern oder Eltern und Verwandten, ist die Dia- logfähigkeit beeinträchtigt. Daraus ergeben sich u. a. erhebliche Schwierigkeiten bei der Ausgestaltung des Sorgerechts und Umgangsrechts. Häufig ist die Dialogfähig- keit zwischen den Erwachsenen so stark gestört, dass das Kind fast unvermeidlich in Loyalitätskonflikte einbezogen und dadurch in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird. Durch die getrennten Eltern kommt es somit in dieser Situation zu einem Ausfall oder Missbrauch der elterlichen Verantwortung.

Eine Gefährdung tritt dann ein, wenn die an dem Streit Beteiligten über die Verfol- gung ihrer eigenen Interessen das Wohl des Kindes aus den Augen verlieren. Das Kind wird dabei zum Streitobjekt bzw. zum Objekt der Erwachseneninteressen.

Bei Autonomiekonflikten handelt es sich um Nichtbewältigung von Ablösekonflikten zwischen Eltern und ihren (heranwachsenden) Kindern. Es kommt zu krisenhaften Auseinandersetzungen durch unterschiedliche Normenvorstellungen beider Seiten. Eine Besonderheit stellen auch die Konflikte von Kindern der Familien aus unter- schiedlichen Kulturkreisen dar (Migrationskonflikte der Kinder usw.). Im Jugendamt der Stadt Oldenburg gibt es eine Mitarbeiterin im ASD, die sich besonders mit dem Thema Zwangsehen auseinandergesetzt hat und als Ansprechpartnerin zur Verfü- gung steht.

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